Spandakarika

Von Vasugupta oder Kallata

1.
Die verehrte Shankari (Shakti), Quelle der Energie, öffnet ihre Augen, und das Universum löst sich in reinem Bewusstsein auf; sie schliesst sie, und das Universum zeigt sich in ihr.

2.
Das Erschauern - als ureigenster Ort der Schöpfung und der Rückkehr – ist frei von jeder Grenze, denn seine Natur ist frei von jeder Form.

3.
Sogar im Schoss der Dualität taucht der Tantrika bis zur nicht-dualen Quelle; denn die reine Subjektivität bleibt immer versunken in die eigene Natur.

4.
Alle relativen, an das Ego gebundenen Begriffe finden ihre friedvolle Quelle wieder, die zutiefst vergraben ist unter verschiedenen Beschaffenheiten.

5.
Im absoluten Sinn sind Freude und Leid, Subjekt und Objekt nichts anderes als der Raum des tiefen Bewusstseins.

6./7. Diese grundlegende Wahrheit zu erfassen, bedeutet, überall die absolute Freiheit zu sehen. So hat die Bewegung der Sinne selbst ihren Sitz in dieser grundlegenden Freiheit und ergiesst sich aus ihr.

8.
Also entrinnt derjenige, der das wesentliche Erschauern des Bewusstseins wiederfindet, der Verfinsterung des begrenzten Begehrens.

9.
Dergestalt befreit von der Vielzahl der ans Ego gebundenen Impulse, erfährt er den höchsten Seinszustand.

10.
Also erfasst das Herz, dass die wahre, angeborene Natur zugleich die universal wirkende Kraft ist und die Subjektivität, welche die Welt wahrnimmt. So in die Erkenntnis eingetaucht, weiss es und handelt nach seinem Begehren.

11.
Wie könnte dieser entzückte Tantrika, der immer wieder zu seiner ureigenen Natur als Quelle jeglicher Manifestation zurückkehrt, der Seelenwanderung unterworfen sein?

12.
Könnte die Leere ein Objekt der Kontemplation sein, wo dann, wäre das Bewusstsein, das sie fürchten würde?

13.
Betrachte also die Kontemplation der Leerheit als künstlich und von vergleichbarer Natur mit jener einer tiefen Abwesenheit von der Welt.

14./15./16.
Handelnder und Handlung sind vereint, aber wenn die Handlung sich durch Vernachlässigung der Früchte des Tuns auflöst, erschöpft sich eben die an das Ego gebundene Dynamik, und der Tantrika, zutiefst versunken in diese Kontemplation, entdeckt das von der Bindung an das Ego befreite Erschauern. Die tiefe Natur der Handlung ist also offenbart, und derjenige, der die Bewegung des Begehrens verinnerlicht hat, wird keine Auflösung mehr erfahren. Er kann nicht aufhören zu existieren, denn er ist zur tiefen Quelle zurückgekehrt.

17.
Der erwachte Tantrika verwirklicht dieses kontinuierliche Erschauern durch die drei Seinszustände hindurch.

18.
Shiva ist dann in liebender Vereinigung mit der Shakti in der Form des Wissens und seines Gegenstandes, während er überall anderswo sich als reines Bewusstsein offenbart.

19.
Die gesamte Palette der verschiedenen Arten des Erschauerns findet ihre Quelle im universellen Erschauern des Bewusstseins und rührt so an das Sein. Wie könnte ein solches Erschauern den Tantrika begrenzen?

20.
Dennoch verursacht dieses Erschauern selbst den Untergang der Menschen, die einer begrenzten Sicht unterworfen sind, denn wenn ihre Einsicht von der tiefen Quelle abgetrennt ist, werfen sie sich in den Strudel der Seelenwanderung.

21.
Wer mit Inbrunst auf das tiefe Erschauern gerichtet ist, rührt an seine wahre Natur, sogar mitten in der Aktivität.

22.
Das tiefe und beständige Erschauern kann in Extremzuständen erreicht werden: Im Zorn, in intensiver Freude, im mentalen Umherirren oder im Überlebensdrang.

23./24.
Wenn sich der Tantrika Shiva/Shakti überlässt, steigen Sonne und Mond im zentralen Kanal auf.

25.
In diesem Moment, wenn Sonne und Mond im Himmel verschwinden, bleibt der Erwachte klaren Geistes, wohingegen der gewöhnliche Mensch in trüber Unbewusstheit verharrt.

26./27.
Wenn die Mantras mit der Kraft des Erschauerns geladen sind, erfüllen sie ihre Funktion durch die Sinne des Erwachten hindurch. Sie vereinigen sich mit dem Geist des Tantrika, der die Natur von Shiva/Shakti durchdringt.

28./29.
Jedes Ding taucht aus der individuellen Essenz des Tantrika auf, der sich in Shiva/Shakti wiedererkennt, alles, was ihn erfreut, ist Shiva/Shakti. So gibt es keinen Zustand, der einen Namen trüge, der nicht Shiva/Shakti wäre.

30.
Indem der Tantrika der Wirklichkeit, die er als Spiel seiner eigenen Natur erkennt, immer gewahr ist, ist er inmitten des Lebens selbst befreit.

31.
Durch die Intensität des gegenstandslosen Begehrens erscheint im Herzen des Tantrika, der eins ist mit dem tiefen Erschauern, die Kontemplation.

32. Damit gelangt er zum höchsten Nektar, der Unsterblichkeit des Samadhi, die dem Tantrika seine eigene Natur offenbart.

33.34.
Die glühende Sehnsucht nach Shiva/Shakti, die das Universum bezeugt, schenkt dem Tantrika Erfüllung. Im Verlaufe des Traums erscheinen Sonne und Mond in seinem Herzen, und alle seine Wünsche werden erhört.

35.
Aber wenn es ihm an Gewahrsein fehlt, wird der Tantrika vom Spiel der Manifestation getäuscht, und er wird den illusorischen Zustand des Strebenden durch Wachen und Schlafen hindurch kennenlernen.

36./37.
So wie ein Gegenstand, welcher der Aufmerksamkeit entgeht, klarer wahrgenommen wird, wenn man sich bemüht, ihn klarer zu umfassen, so erscheint dem Tantrika das höchste Erschauern, wenn er es voller Inbrunst anstrebt. Auf diese Weise stimmt sich alles auf die Essenz seiner wahren Natur ein.

38.
Sogar in einem Zustand äusserster Schwäche wird ein solcher Tantrika zur Erfüllung kommen. Sogar ausgehungert wird er seine Nahrung finden.

39.
Mit der Erkenntnis des Herzens als einziger Stütze ist der Tantrika allwissend und mit der Welt in Harmonie.

40.
Ist der Körper/Geist von Entmutigung zerschlagen, die dem Nichtwissen geschuldet ist, wird nur die Ausdehnung des Bewusstseins über alle Grenzen hinaus seine Mattigkeit zerstreuen, deren Ursprung dann verschwunden sein wird.

41.
Die Offenbarung des Selbst geschieht plötzlich jenem, der nur mehr absolutes Begehren ist. Möge jeder die Erfahrung machen.

42.
Währenddessen das Licht, der Ton, die Form und der Geschmack denjenigen fesseln, der noch an das Ego gebunden ist.

43.
Wenn der Tantrika jegliches Ding mit seinem absoluten Begehren durchdringt, wozu dienen dann Worte? Er erfährt es von allein.

44.
Möge der Tantrika gewahr bleiben, mit wachsam in der Wirklichkeit ausgebreiteten Sinnen und möge er so die Stabilität erfahren.

45.
Wer seiner Kraft durch die dunklen Mächte begrenzter Aktivität beraubt ist, wird zum Spielball der Energie der Töne.

46.
Ist der Mensch im Feld der subtilen Energien und der mentalen Vorstellungen gefangen, löst sich die höchste Ambrosia auf, und er verliert seine eingeborene Freiheit.

47.
Die Macht des Wortes ist immer bereit, die tiefe Natur des Selbst zu verschleiern, denn keine mentale Veranschaulichung kann sich von der Sprache losmachen.

48.
Wenn die Energie des Erschauerns durch einen gewöhnlichen Menschen hindurchgeht, knechtet sie ihn, während dieselbe Energie den auf dem Weg Befindlichen befreit.

49./50.
Der feinstoffliche Köper selbst ist eine Fessel, die an die begrenzte Intelligenz und an das Ego gebunden ist. Der geknechtete Mensch macht Erfahrungen, die an seine Überzeugungen gebunden sind und an die Vorstellung, die er sich von seinem Körper macht, und gerade dadurch macht er die Bindung dauerhaft.

51.
Doch wenn der Tantrika sich im Erschauern der Wirklichkeit niederlässt, befreit er das Fliessen der Manifestation und des Rücklaufs und erfreut sich so an der universellen Freiheit als Meister des Rades der Energien.

52.
Ich verehre die spontane, erschauernde und wunderbare Rede meines Meisters, die mich den Ozean des Zweifels hat durchqueren lassen.
Möge dieses Juwel des Wissens alle Wesen dahin führen, dass sie die wahre Natur der
Wirklichkeit berühren und im Tiefsten ihres Herzens bewahren.

 

Übersetzung: Hanns-Martin Hager/

Übersetzung Hanns-Martin Hager

 

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