Das Wort Tantra findet seine Wurzel in "tan", was Weite, Totalität,
Vollkommenheit bedeutet. Man könnte an das Gewebe eines Stoffes denken,
in dem die einzelnen Fäden sich zu einem vollkommenen Etwas verweben. Dieser
mystische Weg hat den Buddhismus und Hinduismus tief geprägt und dabei
seine eigenen shivaitischen Charakteristiken bewahrt.
Überliefert wurde es durch zahlreiche Linien von denen einige ihren Ursprung
im V. und VI. Jahrhundert im Industal finden. Das Tantra ist ein Weg der Nichtdualität,
der zwischen dem VII. und XIII. Jahrhundert im Königreich Oddyâna,
im benachbarten Kashmir und in Assam, am Ende der Himalayakette in Erscheinung
tritt.
Der aus Oddyâna stammende Padmasambhava führte das Tantra im Tibet
des VIII. Jahrhunderts ein. Ungefähr zur selben Zeit hat sich die Lehre
in Indien, Nepal aber auch in China, Japan und Indonesien verbreitet.
Meine Meisterin, die kashmirische Yogini Lalitâ Devî, gehörte
der Linie des Pratyabhijnâ Tantra an, die gemeinsam mit der Spanda Linie
den schlichtesten tantrischen Weg repräsentiert. Sie bezieht sich direkt
auf unser ursprüngliches Wesen. Pratyabhijnâ bedeutet "spontanes
Erkennen" und Spanda "Erschauern, Erzittern, innere Vibration".
Der Weg des Kashmir Yogas, beschrieben in dem Vijnânabhairava tantra,
dem ältesten Text, der uns über das Yoga erhalten ist, beschreibt
das spontane Erkennen unserer göttlichen oder vollkommenen Essenz, die
sich über das inneres Erschauern der Nondualität ausdrückt.
Man spricht hier auch von Sahajiyâ oder vom Weg des spontanen Erwachens.
Die tantrische Suche basiert auf der Idee, daß dem inneren Wesen nichts
hinzugefügt oder genommen werden kann. Einzig die freie Manifestation der
Menschlichkeit führt ins Bewußtsein und in die Freiheit. Die Suche
liegt jenseits des Dogmas, des Glaubens, der Religiosität, der moralischen
Grenzen. Man könnte sagen, es handelt sich hier um eine weltliche Askese
par Excellence; vollkommen integriert in die Realität und das tägliche
Leben. Kashmir Tantra ist ein weiblicher Weg, der die Gesamtheit der Wesen einschließt
und die Macht der Frau vollkommen anerkennt. Es ist ein Weg, der uns zurück
zur Quelle führt; in den Embryonalzustand, der die Vollkommenheit in sich
trägt.
Ich möchte im Folgenden eher die Praktiken des Tantra vorstellen, als mich
näher über das tantrische Gedankengut auszulassen. Diese Praktiken
werden Ihnen erlauben, ein sofortiges Gespür für die philosophischen
Hintergründe zu entwickeln.
Abhinavaguptha, der große tantrische Philosoph, der im Kashmir des X.
Jahrhunderts lebte, gibt uns in einem seiner Gedichte eine wundervolle Definition
dieses vollkommenen Weges:
"Bewege dich von vornherein außerhalb des geistigen Fortschreitens,
außerhalb der Kontemplation,
außerhalb der üblichen Diskurse,
außerhalb der Suche,
außerhalb der Meditation über die Gottheiten,
außerhalb der Konzentration und des Rezitierens der Texte.
Und nun sag mir;
welches ist die absolute Realität, die keinen Platz für Zweifel läßt?
Hör gut zu!
Hör auf, dich an dies oder jenes zu hängen.
Ruhe in deiner wahren vollkommenen Natur.
Genieße friedlich die Realität der Welt."
Rückkehr in die Vollkommenheit
Das Kashmir Yoga, so wie es in dem Vijnânabhairava tantra beschrieben
wird, ist ein Jahrtausende alter Weg der Rückkehr zu sich selbst. Die Dynamik
der Suche und des Praktizierens verbindet die verschiedenen Fäden des Gewebes
des kosmischen Stoffes und macht uns gleichzeitig die Vernetzung dieser Fäden
und ihre Einzigartigkeit in der Gesamtheit bewußt. Praktizieren bedeutet,
sich auf das unendliche Spiel einzulassen, das uns zum einen mit der inneren
Architektur der Wesen und zum anderen mit der vollkommenen Weite in Berührung
bringt. Das Yoga wird zum Ausdruck der Vollkommenheit. Der Tantriker sucht nichts
außerhalb seiner selbst. Seine Devise könnte sein: "Kein Gott,
kein Meister". Shiva (die männliche Energie) und Shakti (die weibliche
Energie) sind kein Paar sondern eine Einheit. Sie residieren im Körper
des Praktizierenden. Sie werden repräsentiert durch den Lingam (Phallus),
der aus der Yoni (Vulva) mehr herausragt als sie zu penetrieren. Viele tantrische
Maler zeigen die Yogis oder die Yoginis in der Haltung der Meditation. In ihrem
inneren Raum schweben alle Arten von Symbolen, die auch in der äußeren
Welt vorkommen. Oft sind Shiva und Shakti in der sexuellen Vereinigung dargestellt,
die die Vollkommenheit, die Einheit, zum Ausdruck bringt.
Das Yoga führt uns nicht nach Außen, sondern zu unserer inneren Quelle
zurück. Die Praxis beginnt mit dem vollkommenen Annehmen dessen, was wir
im Augenblick sind. Sie vermittelt sich uns über die Reintegration unseres
Körpers, welcher verlassen und zum Schweigen gebracht, verstümmelt
durch die Unbewußtheit des Vollkommenen.
Unser Leben ist keine Anhäufung von Gutem oder Schlechtem, von Schönheit
oder Häßlichkeit, es ist ein ständiger Fluß, ein Ausdruck
der absoluten Kreativität der Gesamtheit, die jede Starrheit aufhebt. Das
Yoga ist der Strom, der alle Unruhe mit sich nimmt und im Meer der Ruhe mündet.
Unsere Natur schließt alle menschlichen Schattierungen ein und durch den
spirituellen Idealismus wollen wir die Finsternis verlassen und verlieren gerade
dabei das Licht. Praktizieren bedeutet zur Welt zu werden, zu begreifen, daß
die Welt ein Abbild unserer selbst ist, daß keines ihrer Ausdrucksformen
uns fremd sein kann. Vom Abscheulichen zum Erhabenem sind wir was wir sehen.
Sobald wir anfangen uns nur mit einem Teil des Gesamten zu identifizieren, beginnen
wir eine Maske zu tragen. Das Vergessen unserer globalen Natur kann unseren
spirituellen Weg in eine Identifikation mit einem Ideal umwandeln, das uns Wahnvorstellungen
gebären läßt; und so laufen wir Gefahr, aus unserer ursprünglichen
Vollkommenheit zu gleiten. Das ist die größte Schwierigkeit des tantrischen
Weges, der oft mit einem Balanceakt auf einer Rasierklinge verglichen wird.
Einer Suche bei der man nicht versucht, sich vom menschlichen Wesen zu entfernen,
sondern es im Gegenteil auftauchen läßt aus dem Bewußtsein
der Weite. Der direkte Effekt eines wirklichen Praktizierens ist die Erneuerung
der Beweglichkeit unserer Gedanken, unserer Gefühle, unseres Körpers
und unserer Sinnlichkeit. Der Körper/Gedanke umfaßt dann die Weite,
in der sich das Ego auflöst.
Urteile und Vorurteile verschwinden, die geistige Unruhe legt sich. Der Trennungsgedanke
verflüchtigt sich im Raum. Wir erkennen, daß all dies erstarrte Formen
einer Momentaufnahme sind, die den Fluß des Lebens künstlich stauen
und jedes mal, wenn wir von einer festen Vorstellung fasziniert sind, schwimmen
wir vergeblich gegen den Strom der Welt. Also, wenn wir den Körper und
die Beweglichkeit vereinen, sind wir eine Quelle des Friedens, die gewaltig
sprudelt. Wenn wir im Frieden sind und in der Akzeptanz, in der Beweglichkeit
und in der Liebe, dann sind wir eine gewaltige Quelle, die besänftigt ist.
Wenn wir uns endlich erkennen, erkennen wir, daß wir ein Abbild unserer
äußeren Welt sind. Wir lösen unsere Erbschuld durch diese Erkenntnis
auf und sind endlich bereit das Yoga der Rückkehr zu praktizieren. Jedes
Gefühl, jeder Gedanke, jede Sinnlichkeit führt zurück zur Quelle
aller Dinge. Diese Akzeptanz, diese Reintegration der Gesamtheit, nennt man
Sein.
Das schweigsame Sitzen erlaubt uns aus der Starre auszutreten, die sich in allen
Tätigkeiten, in denen wir ohne erwachtes Bewußtsein handeln, ausdrückt.
Das Tantra läßt uns eine große Freiheit die Körperhaltung
betreffend. Alte Tonplastiken aus dem Industal stellen oft Yogini oder Yogin
mit gegen die Brust gezogenen Knien dar, die Unterarme auf den Knien ruhend,
während andere die klassische Lotus- oder Halblotushaltung zeigen. Ein
solches Sitzen öffnet den Raum der Ruhe. Allmählich lösen sich
die Verhärtungen auf, das tiefe ruhige Atmen setzt sich durch und für
Momente verlieren wir die Illusion des Getrenntseins. In dieser kurzen Auflösung
der Starrheit kehren wir in die Vollkommenheit zurück. Diese Erfahrung,
Samadhi genannt, ist das Erwachen einer zentrumslosen Sphäre, die in die
Welt fließt, sich in einer Welle der kreativen Spontaneität offenbart
und sich wieder zurückzieht. Es wäre unpassend, hier von einem Experiment
zu sprechen, weil es gerade in diesem Augenblick kein Zentrum, keinen Experimentierenden
mehr gibt, wir fühlen nur den Ausdruck vollkommener Weite.
Um sich einfach hinzusetzen und das Ego loszulassen, sind ein paar Jahre regelmäßiger
Praxis von Nöten, obwohl es manchmal auch passieren kann, daß dieses
"Experiment" völlig unerwartet schon am ersten Tag gelingt. Wenn
wir den Zustand erreicht haben, in dem dieser Sitz für uns angenehm geworden
ist, erforschen wir die Weite und machen uns mit dem Wechsel von vollkommener
Ruhe und Angespanntheit vertraut. Dieser Wechsel zwischen Seinszuständen,
die uns zunächst konträr erscheinen mögen, ist die Grundlage,
diesen Sitz zu erlernen. Eines Tages verlieren wir den Blick für oben und
unten, ausdehnen und zusammenziehen, und wir erfahren einen Seinszustand, der
kontinuierlich wie eine Welle aus dem Ozean fließt. Diese Welle schöpft
aus der Tiefe ihre Kraft, um sich zu senken und von Neuem zu erheben. Nachdem
wir einmal zu dieser Welle geworden sind, geben wir uns dem Gefühl, das
Wasser selbst zu sein, hin: die Dualität von Oben-Unten, Verspannung-Entspannung
tritt in Vergessenheit. Wir sind nicht nur in den Fluß des Seins eingegangen,
wir sind dieser Fluß.
Wir erleben einen Schock, weil wir plötzlich feststellen müssen, daß
wir sind was wir suchen. Der Weg führt uns zur Einfachheit zurück.
Im Sitzen stürzen alle Gebilde der spirituellen Träume, alle Projektionen
in sich zusammen. Wir kehren zum glühenden Kern unseres ursprünglichen
Wesens zurück und erkennen, daß nichts und niemand die Macht besitzt,
weder positiv noch negativ, diesen Kern zu verändern, der in alten Texten
"Rubin des Selbst" genannt wird. Erst dann sind wir in der Lage uns
aus der Abhängigkeit von einem System, von einem Lehrer, von meditativen
Zuständen, von der geistigen Vollendung zu lösen. Es gibt nicht Wertvolleres,
als im täglichen Sein bei jeder Tätigkeit, die wir ausführen
in diesem meditativen Zustand ohne Trennung zu sein. Wenn der Körper/Geist
zu seiner ursprünglichen Quelle zurückgefunden hat, vermeidet die
Einführung in die wiegende tantrische Haltung des Sitzens, daß eben
diese, sowie die Ruhe, Fetische und somit nur noch kreativitätslose Augenblicke
werden. Das Tantra wendet sich vollkommen dem täglichen sozialen Leben
zu. Sein Ziel ist die Integration dessen, was wir in der Yogahaltung empfinden,
in das aktive Leben, sodaß keine Spaltung mehr möglich ist zwischen
innerer Erfahrung und Tätigkeit, zwischen Innerem und Äußerem.
Wir meditieren mit offenen Augen, der Welt zugewandt und stehen in Verbindung
mit dieser Welt. Es ist von Bedeutung auf welche Weise wir aus der sitzenden
Haltung austreten. Es ist ein sanfter Übergang, der uns in den Alltag und
in die Tätigkeit gleiten läßt, ohne die Meditation zu unterbrechen.
In dieser Form zu meditieren, bedeutet vollkommen präsent zu sein in allem,
was sich ereignet. Ist diese Haltung stabil, dann ist das Ziel des Yogas uns
zur Integration der Bewegung und des Raumes zu führen, erreicht. Das Kaschmir
Yoga ist nicht auf eine bestimmte Körperhaltung fixiert. Allmählich
schließt es sehr sanfte und sehr einfache Bewegungen ein, ohne diese bewußt
zu forcieren, einzig durch die Atmung. Ein physischeres Yoga kann mit der Zeit
eingeführt werden, aber nicht ohne Vorbereitung. Lalitâ Devî
lehrte, daß 15 bis 20 Jahre konzentrierter Übung nötig sind,
um ein guter Hatha Yogin zu werden, während beim Kashmir Yoga wenige Jahre
der Vorbereitung ausreichend sind, um Bewegung und Raum zu integrieren, welches
das Ziel des Yoga ist.
Wenn wir die Idee akzeptieren, daß wir das Ebenbild der Welt sind, erkennen
wir im Praktizieren das Wesen der Ruhe und integrieren sie in die Bewegung.
Ist unsere Bewegung allmählich befreit von der nichtdualen Präsenz,
verwirklichen wir das Yoga. Die zwei zu Beginn der Askese zu praktizierenden
Stanzen des Vijnânabhairava tantra führen uns in das Bild, daß
alles Yoga sein kann, vorausgesetzt wir lassen zu, daß der Raum unseren
Körper unsere Gefühle, unsere Gedanken durchdringen kann. Eine dieser
Stanzen drückt es etwas genauer aus: "Dort wo du Erfuellung findest,
wird dir das Wesen der vollkommenen Glückseeligkeit offenbart, so du dich
an diesem Ort aufhältst, ohne Schwankungen des Geistes."
Eine andere Stanze besagt: "Das Verlangen wohnt in dir wie in allem. Begreife,
daß Verlangen in allen Dingen und in allem, was der Geist erfassen kann,
vorhanden ist. Dann, wenn du die Einzigartigkeit des Verlangens entdeckt hast,
betrete ihren strahlenden Raum."(1)
In die Realität eintzuauchen und dort alles Verlangen umzupolen, ist die
Basis unseres Praktizierens. Vom ersten Augenblick seines spirituellen Erwachens
ist der Tantriker bestrebt, mit der Welt der Materie, die uns umgibt, zu kommunizieren,
sei sie belebt oder unbelebt.
Indem er das Verlangen außerhalb seiner selbst erkennt, verändert
er augenblicklich die Art der Kommunikation mit der Außenwelt. Indem er
die kleinsten Spuren von Zufriedenheit in seinem täglichen Leben sammelt,
entdeckt er ein vibrierendes Universum inmitten der Banalität, und sein
inneres Wesen öffnet sich der Freude und dem Frieden.
Konkret umgesetzt heißt dies, uns in keinem Augenblick unseres Lebens
von unserem erwachten Bewußtsein zu entfernen. Dieses Yoga wird durch
leichte kleine Bewegungen praktiziert, wie in einem Spiel, das nur wenige Sekunden
andauert. Der Yogin paßt sich dem schnellen Rhythmus des Geistes an, den
er nicht durch ein fixiertes Bewußtsein zu lähmen versucht. Der Tantriker
versucht jeden Tag seine eigenen Praktiken zu kreieren, indem er präsent
im Jetzt ist. Er findet eine tiefe Befriedigung darin, aufzustehen, den Boden
zu berühren, sich anzuziehen, zu duschen, den Himmel anzuschauen, seinen
Partner zu fühlen; damit leitet das Yoga unseren Alltag ein. Während
einiger Sekunden konzentrieren wir uns auf das, was wir gerade tun und jedes
Mal, wenn uns dies wirklich gelingt, reintegrieren wir die Vollkommenheit. Unser
Körper/Geist wird sofort den tiefen Einfluß der Nahrung erkennen,
die wir ihm zuführen. Wenn wir uns vorstellen, daß der Himmel uns
begehrt, werden wir den Himmel mit anderen Augen betrachten. Indem wir uns vorstellen,
daß das Wasser uns begehrt, sind wir im Fluß, selbst beim Kosten
des delikaten Aromas eines Tees. Wir haben die Weite, den Raum in unser Leben
reintegriert. Der Text spricht nicht von einer an das Ego gebundenen beschränkten
Zufriedenheit, er hebt im Gegenteil hervor, daß die vollkommene Präsenz
den differenzierenden Geist transzendiert und wir so die "vollkommene Glückseeligkeit"
erreichen. Auf diese Weise fordert uns das Yoga der Realität jeden Tag
dazu auf, den Augenblick zu leben und auch mitten in der banalsten Wiederholung
das Wesen unserer fundamentalsten Freiheit zu finden. Eine der wichtigsten Punkte
dieses Yogas besteht darin, täglich die minimale Energie zu finden, die
wir benötigen, um in der Welt vollkommen präsent zu sein. Dies kann
sich von Stunde zu Stunde ändern. Diese Energie steht in direktem Zusammenhang
mit allen Elementen unseres Lebens: der Luft, dem Licht, der Nahrung, dem Fließen
des Körpers oder seiner Anspannung, den gehörten und gesehenen Dingen,
allen Momenten des Zyklus, den Augenblicken der vollkommenen Präsenz oder
den Automatismen. Nach und nach erreichen wir den Zustand einer wirklichen Intimität
mit unseren biologischen Rhythmen, unseren Gefühlen, unseren Gedanken.
Das ist der Grund, warum man eine verwandtschaftliche Beziehung zwischen dem
Spiel und dem Yoga herstellen kann. Der wiedergefundene Gefallen am Spiel verwandelt
jede Banalität in ein tiefsinnigeres Experiment, in dem es nichts gibt,
das unserer Aufmerksamkeit als unwürdig erscheinen könnte, weil alles
zu unserer ursprünglichen Quelle zurückführt. Wir erinnern uns
daran, daß Shiva in der Mythologie Schöpfer des Tanzes und des Yogas
ist; unser Körper wird leichter und verankert sich vollkommen in der Realität.
Wir sind im Fluß und treten dem großen Tanz des Universums bei,
in dem alles miteinander kommuniziert, in dem alles der schweigsame Ausdruck
der Harmonie der Vollkommenheit ist. Unser Körper wird zum Becken dieser
Vollkommenheit und die Akzeptanz dessen ist das, was ein Meister einmal "das
große Sutra des Körpers" genannt hat.
Das Ritual ist ein Fest, das eine bestimmte Erfüllung im Yoga des Augenblicks
darstellt. Das Ritual wird erst spät, bei fortgeschrittenem Praktizieren,
eingeführt, da im Tantra das große Ritual erst dann ausgeführt
werden kann, wenn wir im vollkommenen Bewußtsein leben. Die ersten Übungsjahre
werden ganz darauf verwandt, mit allem was uns umgibt und in unserem Leben geschieht,
in Verbindung zu sein. Dies ist in der Ausübung des Tantra in den ersten
Übungsjahren wichtiger als das Rezitieren von rituellen Formeln (Mantras)
oder das rituelle Feiern vor Abbildungen von Shiva, Tara oder Kali. Wenn wir
dem Mäander der fließenden Kontinuität, der uns durch das alltägliche
Leben fließen läßt, folgen können, wenn unser Körper
seine Einzigartigkeit wieder erkannt hat, sein Nicht-Getrenntsein, dann können
wir die große Vereinigung feiern, indem wir das Kali Ritual zelebrieren;
Kali, die die Stammmutter unserer Linie ist. Genauso wie das Kali Ritual , werden
die sexuellen Riten, die die westliche Welt so sehr fasziniert haben, nur selten
vollzogen. Diese Riten sind keine magischen Mittel der Erfüllung, sondern
vielmehr ein großes Fest, welches symbolisiert, daß der Tantriker
in die Nicht-Dualität eingetreten ist. Sie sind ein Ausdruck dessen, daß
das Yoga des Augenblicks vollkommen etabliert ist, daß der Praktizierende
die rituelle Vereinigung mit Kali, sowie die Identifikation mit der Göttin
auf drei Arten realisiert hat:
Die erste ist sehr formell und besteht aus dem Darbringen von Opfergaben wie
Feuer, Wasser, Blumen, Parfüm, Nahrung sowie Geist und Körper des
Praktizierenden. Die zweite wird ohne Anwesenheit von Gottheiten und Requisiten
durchgeführt, da der Tantriker sich selbst als Gottheit erkannt hat. Die
Dritte schließt die große Vereinigung, sexuell und energetisch ein
und besiegelt so die absolute Identität von Meister und Schüler, die
man schon zu Beginn des Sadhana (der spirituellen Übung) erkennen kann.
Ununterbrochen in der Realität präsent zu sein, setzt die Spontaneität,
die Aufhebung der Zeit voraus. Es gibt nichts mehr außerhalb der Gegenwart,
kein Verlangen außerhalb des hier und jetzt zu sein. Wir gewinnen die
tiefe Erkenntnis, daß alles in der Gegenwart geschieht; das betrifft auch
die Erinnerung und die Projektion. Diese Augenblicklichkeit auszuleben erlaubt
uns, allmählich in eine authentische unkontrollierte Ausdrucksform unserer
Zugehörigkeit zu der vollkommenen Einheit zu gleiten. Die äußeren
Handlungen selbst werden zu einer Ausdrucksform der Vollkommenheit. Wir treten
in Resonanz mit der Welt.
Diese Arbeit, dieses Spiel, beginnt mit der Beobachtung von allem was da ist.
Der Tantriker forciert keine Veränderungen, legt keine Gelübde ab,
unterwirft sich keiner moralischen Regel. Sein Ziel ist es, die Realität
so zu betrachten und anzunehmen, wie sie ist. Er tritt keinem Konzept bei, er
untersucht und hinterfragt nicht die Vergangenheit, doch er beobachtet voller
Leidenschaft die Handlungsweise seines unversehrten Wesens. Er beobachtet eher
in welcher Weise er fühlt, denkt und handelt, als daß er einem spirituell
reglementierten Verhaltenskonzept folgt. Das bewußte Wahrnehmen und Eintauchen
in die Realität und die Interaktion mit eben dieser, enthüllt ein
vollkommen menschliches Bild, das nicht mit irgendeinem Ideal oder einer bestimmten
Moral übereinstimmt, jedoch vollkommen authentisch ist. Hat der Tantriker
diese Erkenntnis einmal gewonnen, akzeptiert er jegliche Realität und ist
in der Lage, die psychologischen Knoten aufzulösen, die alle Konformismen
festknüpfen. Sobald das Verhalten seiner Realität beobachtet wird,
verändert es sich von Grund auf, es wird fließend und tritt in die
Spontanität ein, was Harmonie mit dem Vollkommenen bedeutet. Das ist die
subtile und fortdauernde Praxis, auf welche sich der Tantriker einläßt.
Indem er jegliche erstarrte Form ablegt, läßt er seine fundamentale
Freiheit auftauchen, er kehrt zur Quelle zurück und erwartet nichts von
außen. Die Beziehungen, die er zu dem unterhält, der ihn führt,
sind von einer anderen Natur, sie sind frei von jeder Abhängigkeit, einzig
basierend auf der Anerkennung der absoluten Identität aller Lebewesen.
Die Unterwerfung gehört nicht zu den Sadhana. Dieser Weg ist für diejenigen
gedacht, die bereit sind an nichts zu glauben, nichts zu erdulden, nichts zu
akzeptieren, ohne nicht selbst dessen Authentizität geprüft zu haben.
Was bleibt, ist das Vergnügen, das zwei Lebewesen haben, die sich in vollkommener
Nacktheit von Angesicht zu Angesicht begegnen. Zusammen schreiten sie in die
Entäußerung, zu einer radikal fröhlichen Einfachheit.
In der Akzeptanz unserer Vollkommenheit wirkt die sitzende Haltung stabilisierend.
Über die 130 Übungen des Yogas des Augenblicks beginnt eine leichte
aber fortdauernde Aufmerksamkeit auf die inneren Prozesse. Es ist eine einfache
und wirksame Methode, die die verschiedenen Yogaübungen potenziert und
verbindet. In einem ersten Schritt wendet sich das Präsentsein in der Realität
drei Gebieten zu: der Sinneswahrnehmung, der kognitiven Aktivität und zuletzt
der Geburt, der Entfaltung und dem Ausdruck der Gefühle. Auf diese Weise
schaffen wir eine Verbindung zwischen den verschiedenen Übungen, die ihre
Aufmerksamkeit jeweils nur auf eine einzige Bekundung wie den Atem, die Körperbewegungen,
die Gedanken oder die Gefühle richten. Von diesem Zeitpunkt an muß
man sich der subtilen flüchtigen Wechselwirkungen zwischen diesen drei
Bereichen, Sinne, Geist und Gefühl, bewußt werden. Es ist ein schwieriger
Arbeitsprozeß, der jedoch sehr genau die Vollkommenheit unseres Funktionsapparates
enthüllt. Wir erfahren, wie eine Sinneswahrnehmung unseren Geist aktiviert
und wie ein Gefühl zu einem Ausdruck des Vibrierens, des Erschauerns der
Sinne werden kann. Dieses Bewußtsein wird uns entdecken lassen, daß
manchmal Gefühle durch den Geist transportiert werden, meistens jedoch
sind sie eine direkte Antwort des Körpers auf eine äußere Anregung.
Haben wir einmal diese direkte Verbindung ins Bewußtsein gebracht, genießen
wir mehr und mehr, was die Tantriker die direkte Wahrnehmung nennen. Das heißt,
die Wahrnehmung, die von unserem Geist weder filtriert noch zensiert ist. Der
Geist in seiner Manie, sich den Wahrnehmungen zu bemächtigen und sich für
unentbehrlich zu halten, wird durch vollkommenes Präsentsein im Jetzt ausgeschaltet.
Nach und nach gewöhnt er sich daran nicht zu intervenieren. Diese Erfahrung
ist eine der wichtigsten Etappen des Yogas. In einem zweiten Schritt richten
wir unsere Aufmerksamkeit auf die Erfahrung, daß in der unmittelbaren
Wahrnehmung der Welt, die Zeit nicht existent ist. Es gibt nur eine Aufeinanderfolge
von gegenwärtigen Momenten, ein natürliches Fließen des Hier
und Jetzt. Auf diese Weise sind wir nicht mehr von der ununterbrochenen Zeitfolge
konditioniert.
In einem dritten Schritt lassen wir diese Wahrnehmung der Welt frei fließen
und wir entdecken, daß das Ego aufhört, sich mit den äußeren
Ereignissen zu identifizieren. Das Ego wird nicht erneut durch Geschehnisse
im Außen aktiviert. Wir beginnen mit dem Fluß in Berührung
zu kommen, unser Verhalten wird immer freier und wir gelangen zu einer unmittelbaren
Harmonie mit unserer Umwelt.
Wir haben das Gefühl in das Leben einzutauchen, vollkommen lebendig zu
sein. Unser sensorisches Feld erweitert sich, Gefühle werden geboren und
offenbaren sich. Sie kehren auf natürliche Weise zu dem Raum zurück,
aus dem sie gekommen sind. Wir lassen alle Masken fallen und treten in eine
direkte authentische Beziehung zum Leben. Jede Bewegung wird bis zu ihrem Ursprung
begleitet, jede Empfindung mündet in der Ruhe, die Gefühle werden
nicht länger durch ein Ego reduziert, welches das Eine will und das Andere
ablehnt. Eine vollkommene Akzeptanz des Lebens stellt sich ein. Eine tiefe Freude
durchdringt alles womit wir in Berührung kommen, das freie Wesen unseres
Seins offenbart sich in allen unseren Handlungen. Wir nehmen die Dinge nicht
mehr von einem egotischem Zentrum aus wahr, unsere Perspektive hat sich verändert,
wir integrieren die unendliche Weite wieder in unser Dasein. Wir beginnen ein
vollkommenes menschliches Wesen zu sein.
Die Texte und Lehren sind in unser Leben integriert, wir müssen nicht
mehr suchen, wir müssen uns nicht mehr beweisen, wir sind nicht mehr von
der Meinung anderer abhängig. In diesem Moment begreifen wir, daß
alles Bewußtsein ist. All unsere Sinneswahrnehmungen, all unsere Gefühle
und Gedanken sind Bewußtsein. Es gibt nichts mehr, was nicht von Vollkommenheit
getränkt ist. Endlich kommen wir mit der Transparenz in Berührung,
wir handeln spontan, frei von inneren Diskursen. Wir geben uns unseren Empfindungen
hin ohne sie hinterfragen zu müssen. Wir sind befreit von den Pfeilern
der Zeit , die uns eingebunden und eingeengt haben. Alle Orte werden heilig,
alle Handlungen werden zum Ausdruck der Vollkommenheit, wir kosten was Saraha
"den wunderbaren Geschmack der Realität" nannte. Von den Ketten
der Widersprüche befreit, können wir endlich das Soham, das "Ich
Bin", das vollkommene Wesen sein, welches das Sein und das Nicht-Sein transzendiert.
Das ist es, was die Shivaiten das Selbst nennen und die tantrischen Buddhisten
das Nicht-Selbst. Gemeint ist ein Zustand jenseits aller Unterscheidungen, der
Zustand der Vollkommenheit, der das Festhalten an Konzepten auflöst. Es
existiert nichts anderes, als das Erschauern (Spanda) und das Erkennen unserer
vollkommenen Natur (Pratyabhijnâ). Auf dieser Wanderschaft durch die Vereinigung
unseres Körpers und Geistes mit der Welt, nehmen wir Abstand von dem Bild,
das eine Entität, ein Ich, ein Experiment erleben kann, welches Erwachen
heißt. Das Erwachen kann sich nur mit dem vollkommenen Auflösen des
Suchers einstellen. Haben wir dieses Stadium erreicht, was tatsächlich
geschehen kann, müssen wir das Leben nur noch auf den Stein fließen
lassen, der noch eingefaßt ist in den Verhärtungen der geistigen
Gewohnheiten, der physischen Reflexe, der psychischen Neigungen. Nach zwanzig
oder dreißig Jahren, die wir in dieser fortwährenden Aufmerksamkeit
verbringen, kann es uns möglich sein, die vollkommene Verwirklichung zu
erreichen. Wir können ein integral menschliches Wesen werden, welches alles
empfindet, was andere Wesen auch empfinden, ohne von unserer ursprünglichen
Natur abzuweichen. Aber warum sich jetzt Gedanken über die Zukunft machen?
Der Anfang der Befreiung ist schon im wesentlichen die vollkommene Befreiung;
die erste Sekunde der bewußten Wahrnehmung der Realität ist eigentlich
das vollkommene Erwachen. Das ist die große Glückseeligkeit der Spontanität
der Ekstase!
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