Wie auf anderen Gebieten haben die kaschmirischen tantrischen Lehrer, so könnte man sagen, eine besondere Sicht der Kundalini-Energie und seiner Erweckung. Meine Lehrerin Devî, bei der ich diese Erfahrung machen konnte, lehrt, dass man nichts tun kann, dieses Erwecken hervorzurufen, und dass all die "Übungen", die dazu dienen sollen, die Kundalini aufsteigen zu lassen, lediglich energetische Katastrophen produzieren. Die Erweckung mit Techniken hervorzurufen ist für sie genauso, wie eine Kobra mit einem Stock zu reizen, ohne zu sehen, dass sie sich nicht im Käfig befindet - ein Spiel mit wohlmöglich schwerwiegenden Folgen -. Diese Sicht ist genau das Gegenteil von dem, was die meisten Jünger des verwestlichten "Kundalini-Yoga" üben und sich vorstellen. Für Devî sind zwei Dinge Voraussetzung, damit eine wirkliche Erweckung stattfinden kann: ein vollkommen offenes energetisches Umfeld und eine tiefe Beziehung mit einem Lehrer, der wirklich in der Überlieferung steht.
Die absolute und bilderstürmerische Seite der kaschmirischen tantrischen
Lehrer beruht auf einer außerordentlich tiefen Sicht der Dinge, die jeglichen
Ehrgeiz des "Tuns", "Erreichens" und des "Werdens"
ausschließt. Diese radikale Art, alle spirituellen Phantasmen abzuschneiden,
ist eine kaschmirische Besonderheit, mehr noch, eine Besonderheit der Schule.
Pratyabhijñâ, dem Devî gehört, bedeutet "spontan
das Selbst erkennen". Dieses Erkennen beruht hauptsächlich darauf,
von jeglicher Projektion abzusehen und anzuerkennen, dass wir sind, was wir
suchen. Diese Rückkehr zum Selbst impliziert, jegliches lineares, auf ein
Ende gerichtetes Suchen aufzugeben, um die Ganzheit des eigenen Selbst wahrzunehmen.
Das ist der Sinn der großen Mantra "Soham", "Ich bin Shiva".
Bevor überhaupt der Gedanke entsteht, etwas zu erreichen, gleich was es
sei, bin Ich die Ganzheit. Diese Schule ist vor allem ein Nicht-Weg (ânavopâya),
wo die Ruhe das Potential der Kundalini erweckt. Ein Vers des tantrischen Vijñânabhairava
beschreibt sehr gut diesen Zustand der Rückkehr noch vor jeglicher Suche,
in den die Yoginî oder der Yogi eintaucht, jeden Moment, mit voller Wahrnehmung,
mit der Lebendigkeit eines Tigers: "Vor dem Wünschen, vor dem Wissen:
Wer bin ich, wo bin ich? Dies ist die wahre Natur des Ich. Dies ist der tiefe
Raum der Wirklichkeit."
Was aber ist die Kundalini, die man auch "die Zusammengerollte" nennt,
weil sie am Beginn des Rückenmarkes, vor dem Kreuzbein, sich dreieinhalb
Mal aufwickelt. Oft wird sie wie eine schlafende Schlange dargestellt. Die Kundalini
ist nichts anderes als Shakti, die ursprüngliche Energie.
Sehr häufig wird sie in unserer Schule mit Kali in Verbindung gebracht;
sie ist ein wesentlicher Bestandteil des Yonitantra, eines sehr geheimen Textes
der Initiation in die große Vereinigung, bei der das Ritual der Anbetung
Kalis, die Mantras und die Meditation über die tausend Namen Kalis ein
wesentlicher Bestandteil sind. Die Tantriker assoziieren Kali mit der Kundalini,
die durch einen der Namen der schrecklichen Göttin erweckt wurde.
"Lichtband, das über der Schlange Kundalini zittert": So sollen
die Unvorsichtigen, die diese Kraft auslösen wollen, begreifen, dass es
sich um eine schreckliche Macht handelt. Devî sagte, dass ein vorzeitiges
Auslösen der Kundalini den Ausübenden zunichte macht. Es ist so ähnlich,
wie wenn man ein Geschoss in einem verstopften Lauf abfeuern würde. Die
Verbindung mit Kali ist jedoch noch tiefergehend. Sie ist nicht nur Wächterin
eines Bereiches des Feuers, sie ist vor allem die große Verbreiterin der
Finsternis, sie ist es, welche die Angst zerschneidet, die Bindungen an das
Ich, welche die Kraft gibt, die Sâdhana auszuführen. Sie ist der
Raum, und für ihre Verehrer ist sie vor allem die Energie einer Liebe,
die keine Grenzen mehr kennt, da der Tantriker sich von allen Grenzen befreit.
Wenn die Initiation in Kali derjenigen in die Kundalini vorausgeht, zeigt dies
auch, dass es illusorisch ist zu glauben, man könne die Erweckung der Kundalini
erreichen, ohne die eigenen Schatten untersucht und sich den verborgenen Schrecken
gestellt zu haben. Wenn Kali das Ich zerschnitten hat, wenn die Gegenwärtigkeit
der Wirklichkeit und das Erschauern, Vibrieren - Spanda - sich entfaltet haben,
dann kann vielleicht daraus eine Initiation in die Kundalini entstehen, die
die Apotheose der sexuellen Initiation der Großen Vereinigung ist. Dies
impliziert die vorherige Vereinigung des Tantrikers mit dem Universum, denn
die sexuelle Initiation ist das Zelebrieren eines Zustandes im kosmischen Raum,
in dem sich die Yogini und der Yogi bereits befinden.
Nach Ansicht der kaschmirischen Lehrer wird die Kundalini nicht durch ein Einwirken
auf das Basis-Chakra, das Mûlâdhâra, erweckt, sondern nur
durch die Öffnung des Herzens, des zentralen Chakra. Wenn das Herzchakra
offen ist, sind es die anderen Chakren zwangsläufig; so ist der zentrale
Kanal (Susumna) frei von jeglicher energetischer, emotionaler oder mentaler
Blockade. Wenn der Lehrer sieht, dass der Schüler kosmischer Raum ist,
kann er das Aufsteigen der Kundalini auslösen, in dem er eins mit seinem
Schüler ist. Diese sehr schöne Auffassung verbindet das Erwecken der
Kundalini mit der Ausübung aller Verse des tantrischen Yoga, wie sie im
Vijñânabhairava Tantra aufgeführt sind, und so wird es von
den Lehrern vermittelt. Wenn die Gesamtheit der Gefühlswahrnehmungen, der
Emotionen, der Gedanken nichts anderes sind als beruhigtes und vibrierendes
Bewusstsein, dann muß die fundamentale Energie der Kundalini nicht hervorgelockt
werden, sondern sie erhebt sich ganz natürlich und spontan, indem sie durch
die Gegenwart des Meisters zum Sprudeln gebracht wird.
Dieses zum Sprudeln bringen, entstanden aus der Verbindung zwischen Lehrer und
Schüler, vollzieht sich ohne Anstrengung, sogar außerhalb jeglicher
Aktivität, jeglicher Anleitung einzig durch die Gegenwart des Lehrers.
Anstatt zu versuchen, sich an Bekanntem festzuhalten, gibt sich der Tantriker
vollkommen dem Erschauern, Vibrieren des Lehrers hin, der in ihm das Echo seiner
absoluten und vibrierenden Wesentlichkeit erweckt. So wie zwei vollkommen aufeinander
abgestimmte Instrumente teilen somit Lehrer und Schüler das fundamentale
Vibrieren in der absoluten Präsenz gegenüber der Wirklichkeit, und
die Energie dieser Wirklichkeit ist nicht anderes als Kraft der Kundalini.
Auf meine Frage, welches die wichtigste Eigenschaft eines Tantrikers sei, pflegte
Devî zu antworten: die Fähigkeit aufzugeben. Aufgeben bedeutet, den
Körper, die Gefühle und die Gedanken unmittelbar in der erschauernden
Gegenwärtigkeit vollkommen loszulassen. Es ist gleichzeitig leicht, mehrmals
am Tag für einige Sekunden in diesem Zustand zu leben, und schwer, daraus
eine Erfahrung zu machen, die Welle der Wirklichkeit zu erfassen. Um dorthin
zu gelangen, muß man die Intuition durch "die Intensität der
leidenschaftlichen Anbetung" befreien, die entsteht, wenn die Dualität
zerfließt. Der Tantriker erkennt sich somit als Ganzheit, und die Energie
der Kundalini steigt empor.
Die meisten Beschreibungen des Aufsteigens der Kundalini sind dramatisch und
vermitteln den Eindruck einer unerträglichen Kraft. Das schönste Beispiel
eines solchen Aufschießens findet sich in dem wunderbaren Buch Gopi Krishna,
eines bescheidenen Bekenners des Yoga, eines kaschmirischen Beamten, der dieses
gewalttätige Ereignis auf eine unerwartete Weise erlebte. Er beschreibt
diese schöne und erschreckende Erfahrung in seiner Autobiografie "Living
with Kundalini" auf eine sehr menschliche Art. Gopi Krishna spricht von
seinem physischen Leiden, der Grenze zum Wahnsinn, dem Aufblitzen von Klarheit
und schließlich von der Befreiung.
Devî hatte in gewisser Weise diese schreckliche Kraft durch die Öffnung
zum Raum gezähmt. In einem geöffneten Raum kann die Kraft sich zu
einer großen Zärtlichkeit verwandeln und dabei ganz ihre erleuchtende
Kraft bewahren. Das Erwecken der Kundalini, das in mir ausgelöst wurde,
besaß diese beiden Aspekte, und es vermittelte nicht das Gefühl eines
linearen Aufschießens, sondern vielmehr eines Feuerballes, der den ganzen
Körper umschloß und in seiner Kraft sogar einen Raum großer
Weiblichkeit mit sich zog. Das Leiden, die unheimliche Schwärze, die Einsamkeit:
Sie habe ich vor allem während der Phase der Verinnerlichung dieser Erfahrung
kennen gelernt und bin durch sie hindurch gegangen, um das vollkommene Licht
wiederzufinden, befreit von den Schlacken der routinemäßigen Angewohnheiten.
Das Erwachen, welches durch das Aufsteigen der Kundalini hervorgerufen wird,
ist letztendlich nichts anderes als der Beginn einer ganzheitlichen Verwandlung.
Es ist alles andere als das Erreichen eines endgültigen Zustandes, wo alle
Probleme gelöst sind und wo man sich in einer permanenten Ekstase badet.
Es braucht einige Jahrzehnte, bis man seine eigene Wirklichkeit dem urwesenhaften
Licht dieses außergewöhnlichen Momentes aussetzt. Der Geist braucht
Zeit, um nicht länger zu erstarren, der Körper braucht Zeit, um sich
vollkommen loszulassen. Die Gefühle brauchen Raum, um frei in der Abwesenheit
des Ich zu fließen. Manchmal jedoch zeigt sich die Kundalini ganz spontan,
manchmal befindet sie sich in fortdauernder Einheit mit der Yoginî oder
dem Yogi, die dank ihres Lehrers diese Erfahrung machen.
In unserer Zeit, wo die tiefsten Lehren zu einer dünnen Wassersuppe zusammengerührt
wurden, kann man sich nur schwer vorstellen, dass die Kräfte, um die es
sich handelt, die Kraft einer Sintflut haben. Viel lieber glaubt man, es handele
sich um einen behaglichen Schauer, der die Sinne beglückt und den man fälschlich
für Ekstase hält. Wenn man sich für immer von den versüßlichten
Vorstellungen über Yoga, die Chakren und die Kundalini, die tantrische
Suche freimachen möchte, gibt es nichts besseres, als einen tantrischen
Lehrer aufzusuchen, oder, in Ermangelung dessen, ein radikales Werk über
diese Fragen zu lesen wie zum Beispiel "Aghora II, Kundalini", in
dem Robert Svoboda die Lehren seines Lehrers Vimalananda beschreibt. Es gibt
nichts, was so klar, kurz und knapp wäre. Vimalananda erfreut sich darüber,
dass die Chakren der Menschen verschlossen, oder wie Devî sagte, nichts
als Anhäufungen von Spannungen sind, denn sonst wären die Menschen
verrückt. Also lassen Sie sich bloß nicht die Chakren "öffnen",
wie es manche Ausübende vorschlagen.
Was also tun, wenn Sie an all dem ernsthaft interessiert sind? Zunächst
einmal gilt es der romantischen Vorstellung abzusagen, die uns glauben macht,
dass bestimmte Übungen die Macht hätten, uns mit Leichtigkeit vollkommen
zu verwandeln. Das gibt es nicht. Es braucht vollkommenes Engagement und den
Mut, mit dem zu beginnen, was am wenigsten exotisch ist: dem Yoga der Präsens
gegenüber der Wirklichkeit bei gleichzeitigem völligem Loslassen von
jeglicher Zielsetzung. Die Übung führt nirgendwo hin. Die Frucht ist
die Übung, die Übung ist die Frucht. Wenn die Präsenz Platz greift,
finden der Körper, die Sinneswahrnehmung, die Gefühle und der Geist
ihre Einheit wieder. Die ekstatische Präsenz geht auf diese Weise in die
tägliche Banalität des Lebens ein. Dann erst haben die Übungen,
die für uns wichtig sind, die Chance, sich uns zu zeigen - ohne dass es
dazu eines Hilfsmittels bedarf. Sobald man nichts will, entsteht der Raum, und
das was ins uns verschlossen ist, kann auf natürliche Weise zum Vorschein
kommen. Die künstliche Sphäre "magischer" sexueller Übungen
oder Yoga-Praktiken, die uns dahin führen sollen, wo wir nicht sind, ist
Teil unserer westlichen Träume. Der tantrische Weg ist woanders, er ist
schwer zugänglich, er ist denen vorbehalten, die eine leidenschaftliche
Natur haben, aber er ist schnell, wenn er im Rahmen einer authentischen Vermittlung
begangen wird. Also, wie Lalla, die kaschmirische Dichterin und Lehrerin des
XIV. Jahrhunderts es besang:
Wenn der unterscheidende Geist zur Ruhe kommt
Erwacht die Kundalini!
Die Quelle der fünf Sinne entspringt fortwährend.
Das Wasser der ständigen Gegenwärtigkeit gegenüber der Welt
Ist süß und ich bringe es Shiva dar.
Das andauernde Erschauern des Bewusstseins
Ist der höchste Zustand."
Übersetzung von Elisabeth und Hartmut Kreyer